Das Nadelorakel (8)

Wenn vor Zeiten unsere Vorfahren erkrankten, holten sie selten einen Doktor aus der Stadt. Man half sich selbst oder ging zum „Heilkundigen“ im Dorf. In dem schlesischen Ort Gebhardsdorf, in dem meine Großmutter mit ihrem Artur in den zwanziger Jahren eine Familie gründete, gab es wenigstens eine Art Hebamme, die sowohl die Kinder als auch die Zicklein holte. Aber für die Antwort auf die Frage: Wird’s ein Junge oder Mädchen?, bemühte man das Nadelorakel. Im Zeitalter des Ultraschalls ist das natürlich kein brennendes Geheimnis mehr. Doch ein verblüffendes Erlebnis mit gewissem Unterhaltungswert ist es allemal. Wie es geht, hat eine Tante meiner Cousine verraten. Und Tine praktiziert es heute noch stimmungsvoll: Man nehme einen Faden und eine Stopfnadel (oder den Ehering) als Pendelstück daran. Dieses Lot wird über die Mitte der linken Innenhand gehalten. Hängt das Pendel still und kreist dann plötzlich, wird’s ein Junge. Pendelt es stattdessen hin und her, wird’s ein Mädchen. Tine versicherte mir, die Voraussage stimme bisher zu 99 Prozent.

Nadelorakel Zeichung: Petra Elsner
Nadelorakel
Zeichung: Petra Elsner

Ein bisschen Naturzauber war auf dem Hof unter der Linde immer schon zu Haus. Und auch der Glaube an das Übersinnliche. Als Onkel Paul noch 1948 nach dem Krieg als verschollen galt, packten seine Schwestern ein Stück Butter ein und fuhren damit zum Wahrsager nach Görlitz. Für die Butter erfuhren sie: „Der lebt.“ Paul beschwor später gern: „Es gibt viel zwischen Himmel und Erde.“ Und so leben mit seiner Tochter Tine, einer studierten, quietschfidelen Landfrau, ein paar alte Riten weiter in der Moderne. Hat jemand ein Problem mit Warzen, geht sie mit ihm in den Wald und sucht nach einem herumliegenden Tierknochen. Sie schaut sich dann genau an, wie der (vom Vollmond) beschienene Knochen liegt, hebt ihn auf, streicht dreimal mit ihm über die Warze und legt das Teil in die exakte Ausgangslage zurück auf den Waldboden. Der Rest ist Glauben ohne den gar nichts funktioniert.
Großmutter hat über Derartiges Stillschweigen geübt. Vielleicht wollte sie nur nicht als kleine Hexe ins Gerede kommen. Denn besonderes Wissen muss man auch tragen können. Aber in ihrer Mappe vermerkt ein unscheinbarer Zettel:
Doppelte Ähre: Die doppelte Ähre an einem Stiel jahrelang aufbewahren! Mit ihr streicht man Gürtelrosen ab.
Man kann ja über diesen archaischen (Frauen-) Zauber denken, was man will. Ich find’ es nur schade, dass ich nicht mehr über die magischen Geschenke der Natur weiß …

aus “Die Mappe meiner Großmutter”, limitiertes Künstlerbuch.
Die Texte entstanden zuvor für eine naturfeulletonistische Zeitungskolumne. Dieses Potpourri aus Erinnerungsgeschichten half mir eine Trauerarbeit zu leisten. Der Titel adaptiert Adalbert Stifters “Die Mappe meines Urgroßvaters” – Frauen haben eben auch Geheimnisse. Und bei mir war es an der Zeit, nach den guten Dingen in meinem Leben zu suchen. Ich fand sie in den Ferienzeiten bei meiner Großmutter in der Oberlausitz …

 

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