Bär & Lauch (2)

Großmutter lebte seit ich mich erinnern kann in einem winzigen Fachwerkhaus im Vorland des Zittauer Gebirges. Welliges Land. Tief verschneit im Winter, sattgrün im Sommer. In den Osterferien fand ich das hellblaue Haus in einem Meer aus Osterglocken vor. Entlang der Straße, die sich von Görlitz durch das Oberlausitzsche Land schlängelte, floss der kleine Bach während der Schneeschmelze wilder.
Zu den Höfen führten über das sonst dünne Rinnsal klapprige, knarrende Holzbrücken. Nur zu Fuß oder Rad konnte man sie passieren. Autos mussten längere Wege suchen. Wir Kinder hatten unseren Spaß daran, das Bachwasser mit kleinen Steindämmen anzustauen, um darin gänsehäutig zu planschen. Blutegel wohnten in dem Wasser zuhauf. Heute gruselt mich allein der Gedanke, aber damals zogen wir die schwarzen Viecher einfach ab und spielten unbeeindruckt weiter, bis die Dunkelheit zum Heimgehen drängte. Ein kurzes Stück den Hang hinauf, in der Wiesensenke dahinter lugte zwischen den Fliederbüschen mein Ferienquartier.
An jenem Tag im späten März saß Großmutter mit einer Nachbarsfrau vor dem Haus in der Abenddämmerung und bündelte Bärlauch. Drei, vier Katzen schnurrten um ihre Beine und die Frauen erzählten, dass in den letzten Tagen wieder einmal ein Bär über die polnische Grenze gestapft sei. Wegen des Bärlauchs, dem ersten nahrhaften Grün nach dem Winter. Ihr Waldgang nach den Blättern, die knoblauchähnlich schmecken, war somit nicht ganz ungefährlich gewesen. Ob mir die Frauen nur einen Bären aufgebunden hatten, ist nicht gewiss, sicher war nur meine helle Freude auf eine schlichte Köstlichkeit, die es nur in den Osterferien gab: Das Bärlauch-Butterbrot. Für diese delikate Frühjahrskost braucht man pro Person: Ein hart gekochtes Ei, gewürfelt, und eine Handvoll zarte Bärlauchblätter (längs, dann quer geschnitten) mischen, salzen und pfeffern. Alles auf eine dick gebutterte Vollkornbrotscheibe türmen und obenauf mit Gänseblümchen dekorieren. Ein wahrer Genuss!

Großmutters Mappe birgt diese Notiz:
Bärlauch (wilder Knoblauch)
Frostkeimer. Erntezeit: März bis Juni. Fein gehackt zum Würzen von Salaten und Suppen (nicht mitkochen, sonst verliert es Aroma und Wirkstoffe!). Es reinigt Adern und Blut, gleicht den Blutdruck aus, hilft u. a. gegen Verkalkung, Bronchitis, ist allgemein gut für Magen, Leber und Darm, also trefflich für entschlackende Frühlingskuren. Blätter helfen bei Hautproblemen und machen Narben weich (mit den frischen Blättern einreiben).

Bärlauch findet sich vornehmlich in Auwäldern, Laub- und Mischwäldern, in Parkanlagen und in so manchem Berliner Hinterhof, wo ihn zugewanderte Schwaben kultivieren. Wer erstmalig danach sucht, sollte das lanzenartige Blatt nicht mit denen des Maiglöckchens verwechseln. Sicherer Test: Blatt zwischen den Fingerspitzen zerreiben, ist es Bärlauch, entfaltet sich ein knoblauchartiger Duft. Man kann die Blätter übrigens auch einfrieren.

aus “Die Mappe meiner Großmutter”, limitiertes Künstlerbuch.
Die Texte entstanden zuvor für eine naturfeulletonistische Zeitungskolumne. Dieses Potpourri aus Erinnerungsgeschichten half mir eine Trauerarbeit zu leisten.

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