Der Grenzgänger (Schluss)

Abschluss der Kurzgeschichte:

… Die Woche über war Tonio Krüger wieder schlicht der Jungschlosser in der Hinterhof-Fabrik am Hackeschen Markt. Freitagabend beklebte er Litfaßsäulen mit Kino- und Theaterplakaten und verdiente sich so das Trinkgeld für die nächste Sonnabendnacht. Sonntags schrieb er immer die nächste Geschichte für Terese. Als Tonio an diesem Sonntag endlich erwachte, war es schon fast Nacht. Der Vollmond stand groß über den Dachfirsten und der Steinstraßenpoet schrieb die Geschichte vom Mann im Mond. Ein Liebespaar hockte auf dem Dach gegenüber und es sah so aus, als wohnten sie in der goldenen Scheibe. Also schrieb er: „Eines Abends stieg das Silbermondmädchen hinab auf die Erde. Es hatte ihn lange beobachtet, den Mann auf dem Dachfirst, der tanzend die schönsten Mondlieder sang…“.
Sein Schatten kicherte neben der Nachttischlampe: „Du bist ja verliebt, Alter!“
„Schweig, du störst meine Gedanken!“
Aber der Schatten sprach ungerührt weiter: „Das wird Probleme geben.“
„Ich weiß“, murmelte Tonio und schrieb: „Normalerweise wohnte das Silbermondmädchen unsichtbar im Mondschatten. Aber bei so einem Supermond war der Weg zur Erde scheinbar nicht weit. Wahrheit oder Täuschung? Sie wusste es nicht und sprang trotzdem…“
„Das sollte sie besser lassen. So ein Sprung ins Ungewisse kann tödlich enden,“ nörgelte sein Schatten.
„Nicht im Märchen!“
„Aber Terese ist kein Märchen.“
„Sie will in die Freiheit springen, so ein Drang lässt sich nicht aufhalten.“
„Du wirst leiden.“
„Ja.“

Sonnabendnacht klingelte Tonio im Morgengrauen abermals beim Christlichen Hospiz. Als sich die Tür öffnete und das Neonlicht auf ihn fiel, sah er in zwei alte Augen. „Ist Terese nicht da?“
Der Mann räusperte sich und blickte besorgt hinaus auf die Straße als fühlte er sich beobachtet: „Sie ist weg. Geh jetzt, ich will keinen Ärger.“
Tonio rührte sich nicht. Er sah den müden Nachtwächter an und fragte vorsichtig: „Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Gegen ein Bier, für ein Stündchen an der Rezeption?“

© Petra Elsner
7. Juni 2019

 

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