Der wilde Ritt

Ein Märchen gepflückt aus der Silvesternacht:

Die kleine Winterhexe Proxi rutschte vom Besen. Sie hatte eindeutig zu viel von dem Jagdwasser getrunken, welches der bunten Gesellschaft schon seit sechs Tagen gereicht wurde. Proxi jammerte. „Oh, mein Kopf, mein, Kopf, mein Kopf! Was für einen miesen Fusel sie wieder gebraut haben. Ohohoho…“ Sie schwankte. „Wie nur soll ich durch diese schmale Pforte kommen? Die wilde Jagd wird ohne mich stattfinden, welch eine Schande!“ Proxi klatsche sich die Wangen munter, da schlug schon die Uhr Mitternacht und das Geisterreich öffnete knarrend seine Pforte. Ein Schimmelreiter rief die Wintergeister zum großen Neujahrssturm herbei. Die brausten von allen Seiten heran. Nun stand das große Gefolge und wartete auf des Schimmelreiters ersten Ton. Die Rösser schnaubten noch in den gezogenen Zügeln, bis endlich absolute Stille herrschte. Jetzt stimmte der Herr der Schatten und der Stürme einen magischen Gesang an, einen ohne jeden Zorn und Kummer: „Es sei milde Güte den Erdenwesen gegeben, und keine Sorge möge über sie kommen …“ Proxi wunderte sich: „Welch’ einzigartige Inszenierung! Diesen Text kenne ich überhaupt noch nicht!“ Die kleine Hexe zerrte sich auf den Besen, denn um nichts in den Welten wollte sie bei dieser schönen Verkündung für das neue Jahr fehlen. Sie schüttelte den Rausch aus ihren Haarspitzen, als das berittene Heer der Geisterweisen, begleitet von Raben und schwarzen Hunden, den Nachthimmel im Diesseits stürmte. Mit ihm war auch Holla, die einen weißem Flockenwirbel verstiebte. Der Himmel klang, und ein Lichtschweif sauste darüber. Nur Proxi hielt nicht mit. Sie schlingerte desolat, torkelte irgendwie luftkrank und stürzte schließlich ab. Ihr Besen landete in einem züngelnden Neujahrsfeuer und sie daneben.
„Hohi, welch’ stürmischer Auftritt!“ raunte der Förster Klaus. Er hatte mit seinen Gesellen gerade die alte Waldstraße vom Windbruch befreit. Nun wärmten sie sich am Feuer und hießen still das neue Jahr willkommen. „Nicht alles Gute kommt von oben, Hexlein! Was treibt dich durch diese Nacht?“ „Die wilde Jagd, hick!“ Die Männer legten Holz nach und das Feuer loderte heller. Klaus schnupperte: „ Wohl zu tief ins Glas geguckt?“ „Hick, leider“, säuselte Proxi, „nun verpasse ich doch wirklich den Rest der schönen Verkündung für das neue Jahr. Habt ihr den wundervollen Gesang gehört?“
„Nein, nur das Geheul des großen Sturmes. Sieh, selbst biegsame Haselnussbäume hat er entwurzelt.“ „Es wird eben ein großartiges Jahr werden, dafür braucht es Platz“, meinte Proxi. „Und eine betrunkenes Hexlein in der ersten Stunde“, raunte die Runde.
„Nein, nein, ich gehöre nicht in das Programm, ich bin nur ein Zufall“, stammelte Proxi. „Ein guter oder ein schlechter“, wollte Klaus wissen, „wohl nur ein geschwätziger“, murmelte er leise weiter und band dazu einen Besen aus Haselnusszweigen.
Die kleine gefallene Hexe schlürfte ernüchternd heißen Kaffee, als ihr der Förster den Besen reichte: „So, damit müsstest du davon kommen!“ Sie musterte das Gebinde: „Er versteht sich gut aufs Besenbinden, hat er auch einen Zauber? Nein? Dann wird er einen bekommen.“ Sie pustete das Teil an, dass es sich drehte und sodann durch die Pisten der Landschaft fegte. Kein entwurzelter Baum blockierte nun noch einen Ort. Proxi lächelte über die verwunderten Gesichter am Feuer: „Nun ist euch etwas Zeit zum Feiern zugefallen, genießt sie!“ Dann brauste die kleine Hexe auf einem einfachen Haselnusszweig davon.

© Text & Zeichnungen: Petra Elsner

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Diese  Neujahrsgeschichte  findet sich in meinem Buch  “Von der Stille des Winters”. Erhältlich ist es hier.

Die Credits zum Buch:
Petra Elsner, „Von der Stille des Winters“, Hardcover, 92 Seiten, 2. stark erweiterte Auflage (des Dezemberlesebuches), zahlreiche Illustrationen von Petra Elsner, ISBN: 978-3-943487-79-4, Preis: 20 Euro, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Ehm Welk (einst in Angermünde, jetzt in Schwedt)

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