Der Spuk in der Tanne – der 2. Akt

Beim Vergolden. Zeichnung: Petra Elsner

Leon hockte an Rudi Sonnes blank gescheuertem Küchentisch und tupfte mit ihm vorsichtig Blattgold auf die frischen Walnüsse. Der Maler konnte die Traurigkeit des Jungen einfach nicht mit ansehen und  hatte das Kind noch am gleichen Abend zu sich   eingeladen. Dort saßen sie nun. Das Küchenfenster gab den Blick zum Markt frei, wo die Weihnachtstanne ihr glanzvolles Licht über den inzwischen leisen Ort warf. Rudi zeigte dem Jungen  noch einmal, wie man mit dem Pinsel eine hauchdünne Blattgoldlage zu fassen bekam. Nämlich,  indem er zuvor leicht mit dem Pinselhaar über seine Wange strich und es so mit Hautfett haftfähig machte. „Es sind die kleinen Tricks, die ein gutes Handwerk zu  Stande bringen“, kommentierte der Mann sein Tun. Dann goss er Tee in zwei Becher und schob den Teller mit Schmalzstullen wortlos in die Mitte des Tisches. Er wusste, Leons Mutter hat Nachtschicht, ein gemeinsames Abendbrot konnte dem Kind nur willkommen sein. Der Junge balancierte noch ein Goldblatt auf seine Nuss. „Jetzt nur nicht niesen“, warnte Rudi mit einem Augenzwinkern. Leon musste sich schwer ein prustendes Lachen verkneifen. Dann aßen sie erst einmal in aller Ruhe. Sechs Nüsse hatten sie inzwischen bezogen,  und  sie wussten, sie würden Morgen auch noch Zeit damit zubringen.

Leon schärfte seinen Blick auf die Tanne. „Schau’ mal,  Rudi, irgendetwas bewegt sich in dem Baum. Sieh’ nur, jetzt hüpft ein kleines Licht über die Marktstände. Und nun tänzelte  es dort oben auf der Stromleitung entlang. Was ist das nur?“ Der  Mann stutzte ebenso und wusste keine Antwort. Die  Zwei schauten dem seltsamen Wanderlicht nach, bis es entschwand. Ratlos zuckten die Beobachter mit ihren Schultern und wandten sich wieder dem Vergolden zu.

Am nächsten Morgen hing ein Geschrei und Gezeter über dem Marktplatz. „Bei mir hat einer den Sack mit Sonnenblumenkernen aufgerissen“, brüllte verärgert der Mann vom  Bio-Stand. „ Bei mir fehlen zwei Duftkissen“, rief die Blumenfrau. „In meiner Hütte hat auch jemand stibitzt“, raunte der Mandelbäcker. Und die üppige Frau vom Gemüsestand entdeckte: „Von meiner Auslage hat jemand Aprikosen und Trockenpflaumen geklaut!“ An anderer Stelle waren Esskastanien und ein Lebkuchenherz angeknabbert. Es war nicht wirklich viel, was jedem fehlte, aber die Händler fühlten sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass nächtens jemand frech durch ihre Hütten spazierte und sich heimlich bediente.

Bürgermeister Conrad Lob hatte die ärgerlichen Rufe durch das offene Fenster seiner Amtsstube vernommen. Jetzt trat er in die aufgebrachte Runde und versicherte, nein, Ratten gäbe es in seiner sauberen Stadt wirklich nicht. Doch was oder wer könnte dann der nächtliche Besucher sein? Auf jeden Fall forderte Herr Lob sicherheitshalber einen Wachschutz an, damit der schöne Adventsmarkt seiner Stadt nicht in Verruf geriet.

Als abends Rudi Sonne und der kleine Leon mit ihren Goldnüssen vor die Tanne traten, war der Ärger unter den Marktleuten längst verraucht. Keiner sprach mehr von den nächtlichen Vorkommnissen. Gern wäre Leon jetzt auf die Feuerwehrleiter gestiegen, um rund um die große Weihnachtstanne seine schönen Schmuckstücke zu platzieren. Doch die rückte wegen solcher Kleinigkeiten nicht extra an. Auch nicht für Mitglieder der Kinderfeuerwehr. So hängten die Zwei ungesehen ihre Goldnüsse nur ins  Erdgeschoss des Baumes. In der Tüte der Gemüsefrau war nur noch eine einzige unverzierte Walnuss verblieben. Der Maler zog seine buschigen Augenbrauen hoch und drückte  die Nuss dem Jungen mit den Worten in die Hand: „Es ist eine Zaubernuss! Öffne sie nur, wenn dir gar nichts  Anderes mehr einfällt.“ Dann zog der Mann seinen schwarzen Schlapphut und ging. Leon schaute hinauf in den prachtvollen Weihnachtsbaum. Aber seltsam, irgendetwas schien ihn von dort oben aus zu fixieren…

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