Das Schorfheidemärchen “Die Geistereichen”

Morgen lese ich wieder einmal aus “Schattengeschichten aus dem Wanderland – Schorfheidemärchen” in der AWO von Finow.  Ich habe dafür meine Illus zu den Geschichten ausgedruckt und laminiert. So können die Blätter während der Lesung von Hand zu Hand gehen.  Hier eine Leseprobe:

Die Geistereichen Zeichnung: Petra Elsner
Die Geistereichen
Zeichnung: Petra Elsner

Die Geistereichen:

In einer Vollmondnacht erwachten plötzlich die Blitzgetroffenen zu neuem Leben. Sie scharrten mit ihren losen Wurzeln und schauten einander staunend an: der brüchige Galgen, der schwere Mooshammer und die bucklige Riesennase. Dort, wo die Drei standen, an einem Kreuzpunkt über Wasseradern, wuchsen sie seit über 600 Jahren zu mächtigen Bäumen heran, die allerdings wie Blitzableiter wirkten. Unzählige Male durchzuckten ihre Stämme feurige Schläge, bis sie, gespalten und geköpft, leblos in den Himmel stachen. Ihr morsches Holz zog mit der Zeit ein Moosgewand an, und aus ihren Aststümpfen grinsten Geisterfratzen.

In jener Oktobernacht betrat ein Einhorn schnaufend die Lichtung. Sein Atem dampfte, und es tänzelte nervös auf der Stelle. Seit sieben Jahren kam der weiße Hengst stets in der ersten kalten Herbstnacht an diesen Ort, um nach einer Stute zu rufen, doch nie wurde er bisher erhört. Statt einer schönen Gefährtin holte sein sehnsüchtiger Schrei immer etwas Seltsames ins wirkliche Leben zurück: eine vergessene Blume, einen weisen Druiden, ein Elfenkäuzchen. Dieses Mal weckte er die toten Eichen.

Zu ihrer Verwunderung konnten sich die Blitzgetroffenen bewegen, und da sie nur diese Lichtung kannten, schlürften sie einfach knarrend und sehr neugierig durch den Schorfheidewald. Nein, das Schreiten waren sie wirklich nicht gewohnt. Sie schaukelten und stolperten bedrohlich durch Hochwald und Schonungen. Die Stümpfe der Blitzgetroffenen fegten Nester aus den Büschen, ihre Wurzelfüße durchkämmten den Boden und ließen eine wüste Schneise hinter sich zurück. Schauerlich raunten sie in die Finsternis: „Zur Seite, hier kommen wir, die Geister-Eichen!“

Mit dem Morgengrauen war der Spuk vorbei. Dort, wo die schwarz-grünen Ungetüme das erste Licht traf, rührten sie sich nicht mehr von der Stelle und jene, die dem Schauspiel ängstlich beiwohnten, atmeten erleichtert auf.

Doch nur für ein Weilchen, denn zur nächsten Mitternacht erwachten die Eichen wieder, und polterten abermals ziellos durch den Wald. Seit dieser Nacht fürchteten sich die Geschöpfe des Waldes vor dem brüchigen Galgen, dem schweren Mooshammer und der buckligen Riesennase.

Das Einhorn drückte ein schlechtes Gewissen und zeigte sich niemandem, denn es fühlte sich für das Treiben der Geister-Eichen verantwortlich. Was, wenn der Hengst heute Nacht wiederholt den Mond anrufen würde? Noch niemals hatte er seinen Liebesschrei zweimal im Jahr  ausgestoßen. Der Vollmond war längs zum Ei geschmolzen und somit der Zauber der ersten Frostnacht gewiss erloschen. Aber was könnte schon geschehen? Der Hengst hoffte, irgendwie den Zauber auszutauschen.

Zur Mitternacht betrat er scheu die helle Lichtung. Aus der Ferne hörte er das Poltern der Eichen. Das Einhorn stieg auf seine Hinterhufe und röhrte mit der ganzen Kraft seines Leibes ´gen Nachthimmel, flehend, aber nichts geschah. Oder doch? Nein, sein Echo sprang nur noch von Baumwipfel zu Baumwipfel. Er schnaubte und tänzelte, um schließlich ein drittes Mal zu einem Schrei anzuheben. Der war so steinerweichend, dass alles um ihn herum zu weinen begann. Tausende von Tropfen tränkten wie Tau Landschaft und Boden, und da riss plötzlich die Finsternis auf, und eine weiße Stute betrat den magischen Kreis. Gleißendes Licht umschmeichelte die gehörnten Rösser, die sodann auf nimmer Wiedersehen im Glück verschwanden. Als die Dunkelheit an den Ort zurückfand, standen der brüchige Galgen, der schwere Mooshammer und die bucklige Riesennase wieder still und steif an ihren alten Plätzen, so als wäre nie etwas geschehen.

Petra Elsner
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