Wende-Strudel (4)

Sibylle hat sich mehr gewünscht, also noch einen O-Ton:

Ein Wendemagazin
Ein Wendemagazin

Jetzt, Dezember 1990, da eigentlich alles der gelebten Jahre in Frage steht, der gesamte Existenzraum wankt und schlingert, da nicht einmal die Ausgangsfakten für ein Lebenskalkül gewiss sind, bedrängen mich die Erinnerungen. Der Alltag ist randvoll mit Hiobsbotschaften und längst ist das Maß der Erträglichkeit überschritten. Bedroht von erstmaliger Arbeitslosigkeit, nicht zu wissen, ob die Bildungs- und Berufsjahre noch anerkannt werden. Von Woche zu Woche hin- und hergerissen zu werden, zwischen Verkauf oder Konkurs der „eigenen“ Firma. Das heißt Produktionsstop am Montag und Wiederaufnahme am Mittwoch. Wir machen Zeitungen, die sich auf dem Markt im freien Fall befinden. Das Geld kommt jetzt monatlich von der Treuhand. Keiner weiß, was morgen ist, und das Gehalt reicht bis zum Ersten. Wir schweben indes weiter über dem Abgrund, in den wir seit Jahresbeginn sehen können, fast ausgelöscht. Zwölf Monate versuchten wir alle unsere fünfzehn Kinder- und Jugendzeitschriften neu zu profilieren. Das war ein Kraftakt ohne das nötige Geld, die einschlägige Lobby und auch ohne die eigentlich notwendige Konsequenz der Beschränkung.

Abends gehe ich durch unser seit achtunddreißig Jahren gemietetes Zweifamilienhaus am Rande der Stadt, als wäre ich schon nur noch ein Gast hier. Es ist ein Westgrundstück. Die Fernsehnachrichten des Tages machen die Verletzungen für diese vierundzwanzig Stunden komplett. Wie lebt man in solchen Zeiten, wo ist der Ort, der einem nicht eben gerade streitig gemacht wird?

Ich bin in der friedlichen Illusion aufgewachsen, dass die Geschichte Deutschland für immer geteilt hat. Ich kannte das andere nicht. Und was hier gewachsen ist, glaubte ich reformierbar. Denn ich traue den Menschen auch den friedlichen Wandel zu. Doch nach welchem Bilde? Das war nach dem Wendemonat Oktober ’89 nicht genug klar, und Zeit, dies herauszufinden, gab es nicht. Vor dem Anschluss fragten die Talkshow-Master noch höflich, was es denn sei, was wir ins geeinte Deutschland einzubringen hätten. Oft antwortete es, dieses Undefinierbare für Wessi’s: „menschliche Wärme“. Der Verfassungsentwurf des „Runden Tisches“ war noch nicht geschrieben, und die Menschen in Ostdeutschland diskutierten das Thema Schuld und Niedergang. Alles dennoch Wertvolle in 16 Millionen Menschenleben schien verschüttet, denn sie waren ja damals schon aus dem vertrauten Leben in einen Strudel gerissen, woraus schlecht eine Draufsicht auf die Vergangenheit zu bekommen ist.

Jetzt, da man im Begriff ist, gänzlich zu verlieren, treten die Dinge im Gedächtnis an, wie bei einem Sterbenden. Vorsichtig, weil jedes Detail schon allein diskreditiert ist durch seinen Existenzrahmen im deformierten “Sozialismus”. Und die Folge daraus: der deformierte Ossi-Mensch, der durch die Debatten schwappt, als missbrauchte, krankhafte Figur, die nun – peinlich berührt von ihrem Selbst – wieder schweigt. Doch ich lebe ja noch, stürze nur innerlich. Besinnung und Leben im Augenblick scheinen mir wenig verträglich. Momentan jedoch pendele ich stündlich zwischen diesen Daseinssituationen …

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